Machen Demonstrationen am 1. Mai (noch) Sinn?



  • Dann erklär doch einfach kurz, warum Du dieses "leider" da hingeschrieben hast. Das scheint nämlich außer Dir keiner zu verstehen.



  • Jester schrieb:

    Dann erklär doch einfach kurz, warum Du dieses "leider" da hingeschrieben hast.

    Ich habe damals bei einem Rundfunksender gearbeitet und mich intensiv mit der Punkszene und den Chaostagen auseinandergesetzt. Das hat alles sehr viel Spaß gemacht.



  • Leprechaun schrieb:

    Mit dem "Leider nicht" wollte ich mein Bedauern darüber ausdrücken, daß es die Chaostage nicht mehr gibt. Ich bin nicht der Meinung, daß Straßenschlachten eine rechtmäßige Form von politischer Betätigung sind, was mir offensichtlich zu unterstellen versucht wird.

    Also, meines Wissens (das natürlich nicht immer vollständig ist) haben die Punks die Chaostage veranstaltet, um eben genau das zu tun: Sachbeschädigen, brandstiften- kurz: ihre Vorstellung von Gesellschaft (nämlich Anarchie) vorzuführen.

    Dein journalistisches Engagement in allen Ehren, aber Dein Bedauern über den Wegfall der Chaostage ist doch nicht ganz einfach nachzuvollziehen- in jeder Hinsicht. ⚠



  • Ich habe damals bei einem Rundfunksender gearbeitet und mich intensiv mit der Punkszene und den Chaostagen auseinandergesetzt. Das hat alles sehr viel Spaß gemacht.

    OK, dann solltest Du aber auch deutlich zum Ausdruck bringen, dass Dir persönlich die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen und der Szene rund um die Chaostage fehlt.

    Das ist sogar verständlich. Manche Männer (von Frauen höre ich da merkwürdigerweise kein Schwärmen) haben sich auch im Krieg offenbar am wohlsten gefühlt. Das mag die Vorliebe der Männer für Kampf und ein gewisses Maß an Chaos sein, dass den ganzen Mann fordert. 😉



  • Elektronix schrieb:

    Also, meines Wissens (das natürlich nicht immer vollständig ist) haben die Punks die Chaostage veranstaltet, um eben genau das zu tun: Sachbeschädigen, brandstiften- kurz: ihre Vorstellung von Gesellschaft (nämlich Anarchie) vorzuführen.

    Jein. Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft, kein Chaos. Aber diesen weit verbreiteten Irrtum teilten viele ehemalige Punks mit dir. Ausserdem: Mit Ausnahme des Ersten waren alle folgenden Chaostage nur ein Spiel, ein Kräftemessen infantiler Jugendlicher mit der Polizei, das sie nie gewinnen konnten.

    Elektronix schrieb:

    ...aber Dein Bedauern über den Wegfall der Chaostage ist doch nicht ganz einfach nachzuvollziehen- in jeder Hinsicht.

    Die jährlichen Chaostage waren, meiner Ansicht nach, das letze Aufbegehren gegen eine Gesellschaft, die Geld, Leistung und Wohlstand zur Maxime macht. Etwas Vergleichbares hat es danach nicht mehr gegeben. Diese "Mach kaputt was dich kaputt macht"-Mentalität und die Leute, die diese vertraten, hatten für mich einen gewissen Charme, obwohl ich nie dazu gehörte.
    🙂



  • Ausserdem

    Korrekt: Außerdem



  • "Mach kaputt was dich kaputt macht"

    Dem wohnt in der Tat eine gewisse Logik inne. Das Problem ist aber, dass negative Empfindungen heutzutage dermaßen vielfältig sind, dass letztenendes jeder jeden killen möchte. Das Gegenrezept ist Teamgeist und Harmonie/Liebe.



  • Leprechaun schrieb:

    Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft, kein Chaos. Aber diesen weit verbreiteten Irrtum teilten viele ehemalige Punks mit dir.

    Nein, nicht mit mir. Auch die "Ordnung ohne Herrschaft" ist illusorisch. Sie würde unweigerlich im Chaos enden, und dann würde es gerade mal 1 Woche dauern, bis sich neue Herrschaftsstrukturen herausbilden (gemäß dem griechischen Ursprung des Wortes "Chaos" als ungeordneter, aber fruchtbarer Urzustand).
    Es gibt keine Gesellschaft ohne Regeln, und dementsprechend muß es eine Instanz geben, die die Einhaltung dieser Regeln überwacht und entsprechende Saktionen durchführt. In Diktaturen ist das eine Partei oder Dynastie oder Herrscherklique, in Demokratieen eine von der Bevölkerungsmehrheit gewählte "Regierung". Auch die Punks hatten ihre Verhaltenscodices- z. B. sich nicht gegenseitig zu bestehlen oder zu verprügeln. Fatalerweise haben sie die aber nur gegenüber ihrer "Glaubensgenossen" angewandt, während der bürgerliche Rest der Gesellschaft praktisch Freiwild war. Hätten sie diese Codices für alle Menschen gleichwertig angewandt, hätte ihre Idee vielleicht Erfolg haben können.
    Was die Punks da vertraten, war in sich widersprüchlich und damit nicht realisierbar. Man muß nicht Soziologieprofessor sein, um so etwas zu kapieren. Da reicht gesunder Menschenverstand.
    Eine Motivation der Punks, sich gegen die Gesellschaft aufzulehnen, war die Existenz von Polizei (selbst die Grünen forderten die Abschaffung der Bereitschaftspolizei). Die Punks behaupteten, viele Straftaten würden von der Polizei provoziert, als Zeichen einer Auflehung gegen eine vermeintliche Unterdrückung (ich hatte eine Punkerin in der Klasse, die hat sich mal darüber ausgelassen). Die Punkszene hatte in der Hamburger Hafenstraße einen Freiraum geschaffen, in der man als Normalbürger nicht mehr sicher sein konnte. Dort waren Überfälle, Autoaufbrüche und tätliche Angriffe an der Tagesordnung. Die Punks forderten also nur die Zerschlagung eines Systems, das sie nie verstehen konnten- und auch nicht wollten-, aber sie haben keine schlüssige Alternative geboten.

    Elektronix schrieb:

    ...aber Dein Bedauern über den Wegfall der Chaostage ist doch nicht ganz einfach nachzuvollziehen- in jeder Hinsicht.

    Die jährlichen Chaostage waren, meiner Ansicht nach, das letze Aufbegehren gegen eine Gesellschaft, die Geld, Leistung und Wohlstand zur Maxime macht. Etwas Vergleichbares hat es danach nicht mehr gegeben. Diese "Mach kaputt was dich kaputt macht"-Mentalität und die Leute, die diese vertraten, hatten für mich einen gewissen Charme, obwohl ich nie dazu gehörte.
    🙂

    Ok, ein bißchen verstehe ich das. 😉



  • Elektronix schrieb:

    Es gibt keine Gesellschaft ohne Regeln, und dementsprechend muß es eine Instanz geben, die die Einhaltung dieser Regeln überwacht und entsprechende Saktionen durchführt. In Diktaturen ist das eine Partei oder Dynastie oder Herrscherklique, in Demokratieen eine von der Bevölkerungsmehrheit gewählte "Regierung". Was die Punks da vertraten, war in sich widersprüchlich und damit nicht realisierbar. Man muß nicht Soziologieprofessor sein, um so etwas zu kapieren. Da reicht gesunder Menschenverstand.

    Oder die gesunde Arroganz des Ignoranten.



  • Bashar schrieb:

    Oder die gesunde Arroganz des Ignoranten.

    Ich habe nie verstanden, wie man dem Anarchismus anhängen kann, wo es doch kein Indiz gibt, dass er funktioniert - ich kenne zumindest keines.



  • Elektronix schrieb:

    Es gibt keine Gesellschaft ohne Regeln, und dementsprechend muß es eine Instanz geben, die die Einhaltung dieser Regeln überwacht und entsprechende Saktionen durchführt.

    In einer Anarchie gibt es sehr wohl Regeln. Allerdings werden diese Regeln von Allen selbstverständlich angenommen und befolgt. Es wird also keine Instanz benötigt, die diese Regeln gewaltsam durchsetzen muß.

    Elektronix schrieb:

    Eine Motivation der Punks, sich gegen die Gesellschaft aufzulehnen, war die Existenz von Polizei

    Nein. Die Punks sahen in dem bestehenden Gesellschaftssystem eine Fehlentwicklung, die unweigerlich in den Abgrund führt. Sie waren z.B. gegen Profitgier, Umweltzerstörung und ein unmenschliches Wirtschaftssystem, das den Menschen zur Ware macht und ihm seine Persönlichkeit nimmt.

    Elektronix schrieb:

    Die Punks behaupteten, viele Straftaten würden von der Polizei provoziert...

    Bei den Chaostagen war es teilweise so. Die Polizeiführung wollte eine schnelle Entscheidung und hat angreifen lassen, obwohl es oft unnötig war.

    Elektronix schrieb:

    Die Punkszene hatte in der Hamburger Hafenstraße einen Freiraum geschaffen, in der man als Normalbürger nicht mehr sicher sein konnte. Dort waren Überfälle, Autoaufbrüche und tätliche Angriffe an der Tagesordnung.

    Wo hast du denn den Unsinn her? Natürlich konnte man sich als Normalbürger dort ungestört bewegen, wenn man nicht gleich jeden Bettelversuch einem Raubüberfall gleichsetzte. Allein die zahllosen Straßenfeste mit Live-Musik, Theatervorstellungen, et cetera, zu der auch viele Normalbürger kamen, strafen deine Aussage Lügen.



  • Leprechaun schrieb:

    Elektronix schrieb:

    Es gibt keine Gesellschaft ohne Regeln, und dementsprechend muß es eine Instanz geben, die die Einhaltung dieser Regeln überwacht und entsprechende Saktionen durchführt.

    In einer Anarchie gibt es sehr wohl Regeln. Allerdings werden diese Regeln von Allen selbstverständlich angenommen und befolgt. Es wird also keine Instanz benötigt, die diese Regeln gewaltsam durchsetzen muß.

    So gesehen magst Du Recht haben. Allerdings wußten die Anarchisten über diese Besonderheit selbst nicht bescheid. Denn wie kann man ein gewaltloses System mit Gewalt errichten wollen?
    Übrigens beschreibt diese Anarchie genau das, was Christen und Juden als "das Paradies auf Erden" bezeichnen- den Zustand der Menschheit nach Rückkehr des Messias. Leider ist unsere Gesellschaft dafür noch nicht reif.
    Der Reifegrad einer Gesellschaft mißt sich u. a. an der Zahl ihrer Gesetze.

    Elektronix schrieb:

    Die Punks behaupteten, viele Straftaten würden von der Polizei provoziert...

    Bei den Chaostagen war es teilweise so. Die Polizeiführung wollte eine schnelle Entscheidung und hat angreifen lassen, obwohl es oft unnötig war.

    Kann man wohl auch verstehen (auch, wenn man es nicht gut heißen muß)- nachdem die Punks immer wieder zu bestimmten Tagen ankündigten, eine "Schneise der Gewalt" durch Hamburg oder andere Städte zu schlagen und dabei Verstärkung aus dem ganzen Bundesgebiet heran holten. Die Maifeiern in Berlin-Keuzberg sind ja inzwischen berüchtigt. Irgendwann reagiert man eben überempfindlich. Schließlich wurde das Ganze auf dem Rücken der Polizisten ausgetragen, die ihre Nächte, Wochenenden und Mai-Feiertage auch gerne anders verbringen würden.

    Ich meinte das aber nicht nur auf die Chaostage bezogen, sondern allgemein. Nach dem, was unser Klassenpunk damals erzählte, würden viele Starftaten nur deshalb begangen, weil sie eben verboten waren, als Demonstration ihrer Verachtung gegen die Gesellschaft.

    Elektronix schrieb:

    Die Punkszene hatte in der Hamburger Hafenstraße einen Freiraum geschaffen, in der man als Normalbürger nicht mehr sicher sein konnte. Dort waren Überfälle, Autoaufbrüche und tätliche Angriffe an der Tagesordnung.

    Wo hast du denn den Unsinn her? Natürlich konnte man sich als Normalbürger dort ungestört bewegen, wenn man nicht gleich jeden Bettelversuch einem Raubüberfall gleichsetzte. Allein die zahllosen Straßenfeste mit Live-Musik, Theatervorstellungen, et cetera, zu der auch viele Normalbürger kamen, strafen deine Aussage Lügen.

    Mag sein, andererseits war die Kirminalitätsrate (Straßenkriminalität) rund um die Hafenstraße die höchste in ganz Hamburg und Umland, abgesehen vielleicht von der Reeperbahn- soweit ich mich an die damaligen Statistiken erinnere. Selbst Polizisten, die nur Falschparker aufschreiben oder einen Unfall oder einen der vielen Auto-Aufbrüche protokollieren wollten, mußten dort mit Schutzhelm und Panzerweste patrullieren (Gewicht der Gesamtausrüstung damals ca. 18 kg für einen Strafzettel), weil sie immer damit rechnen mußten, mit Steinen bombardiert zu werden. Im Bezirk Hamburger Hafen hätte ich nicht Polizist sein wollen.

    [Edit]
    Hab einen Artikel über die Hafenstraße bei Wikipedia gefunden. Daraus nur ein kurzer Auszug:

    Wikipedia schrieb:

    Gegenseitige Provokationen von Bewohnern, Behörden und der Polizei führen bis heute, wenn auch seltener geworden, immer wieder zu Ausschreitungen und Polizeieinsätzen. Da die Verfolgung von Straftaten meist nur unter massivem Polizeieinsatz möglich war, wurde von Kritikern der Begriff des „rechtsfreien Raumes“ geprägt. In der Folge solcher Ereignisse wurden von Stadt, Behörden und Polizei Planspiele entworfen, um eine Räumung herbeizuführen. Das Interesse der Bewohner bestand darin, den Abriss der Häuser zu verhindern, billigen Wohnraum zu erhalten und in diesem ein selbstbestimmtes Leben ohne Entfremdung zu führen. Innerhalb des Konfliktes wurde immer wieder versucht, den Zusammenhang zu anderen sozialen Konflikten herzustellen, was sowohl die Stärke der Hafenstraße ausgemacht hat, als auch Grund für die staatliche Repression war.

    Vermutlich- wie so oft- müssen sich beide Seiten an die eigene Nase fassen.


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