Warum enthält ein Informatikstudium soviel Mathe?
-
SeppJ schrieb:
Ich habe jetzt den anderen Thread nicht ganz durchgelesen
Tu es. Dann brauche ich die Argumente nicht hier zu wiederholen. Oder poste dort, daß Du der Meinung bist, daß 1/3 rauskommt.
Die letzten Postings sind nicht der Konsens, denn viele haben mehr oder weniger früh ohne Konsens die Geduld verloren und sind ausgestiegen.
-
volkard schrieb:
Die ist mir unbestimmt, weil man viele Annahmen darüber anstellen kann, welches der Kinder am Fenster steht.
Du meinst, man kann die Aufgabe nicht eindeutig mathematisch modellieren? Ich meine, die Situation, die da beschrieben ist, ist doch durchaus eindeutig nachvollziehbar. Jeder kann sie sich vorstellen. Das einzige Problem ist jetzt, wie sie interpretiert wird. Wie also die Abbildung auf die Mathematik gemacht wird. Mathematische Modellierung ist schwierig, in der Stochastik ist sie auch schon bei einfachen Problemstellungen stark verwirrend. Und das, obwohl in der Stochastik einfach nur eine Abbildung des Problems auf einen bestimmten Aufgabentyp gesucht wird. Hier geht es nichtmal darum, das Problem auf eine große mathematische Struktur abzubilden. Um es mal übertrieben auszudrücken: Man muss hier eben nicht die Quantenmechanik auf die Mathematik abbilden.
Ok, Du kannst jetzt sagen, dass man bei der Problemstellung Annahmen darüber machen kann, welches Kind aus dem Fenster sieht. Man muss sich eben genau überlegen, welche Annahmen bei einer mathematischen Modellierung richtig und welche falsch sind. Ich sehe erstmal nicht, wie aus der eindeutig beschriebenen Situation mehrere "richtige" Modellierungen entstehen können. Das Problem ist eben, dass sich viele über die richtigen Annahmen im unklaren sind. Und es ist nicht leicht einsichtig, ob man eine bestimmte Annahme machen darf oder nicht.
-
SeppJ schrieb:
Und um den Thread nochmal ordentlich anzuheizen: Man bekommt neue Nachbarn, eine Familie mit zwei Kindern. Nun sagt einem die neue Nachbarin, dass ihr ältestes Kind ein Junge ist. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das andere Kind ein Mädchen ist?
Das führt doch zu genau demselben Modell. Es ist völlig egal, ob Kind 1 das ältere ist, oder das, das man am Fenster sieht. Es ist jedesmal ein bestimmtes Kind.
-
Gregor schrieb:
Ok, Du kannst jetzt sagen, dass man bei der Problemstellung Annahmen darüber machen kann, welches Kind aus dem Fenster sieht.
Der riesige Unterschied ist, ob man annimmt, dass die Kinder eine geordnete Menge darstellen oder nicht. Also ob wir einen Unterschied machen, ob "Kind 1" oder "Kind 2 " am Fenster steht.
Wenn wir nummerieren, dann kommt raus, dass die beiden Wahrscheinlichkeiten statistisch unabhängig sind und damit 1/2 raus kommt. nummerierst du nicht, dann kommt 1/3 raus. Das Problem ist nun, dass in der Aufgabenstellung kein Hinweis daauf gibt, ob nummeriert werden soll oder nicht. Und beide Modellierungen sind richtig.
Der Unterschied beider Modellierungen:
Nummeriert:
Kind 1 Kind 2
m m
m w
w m
w wKind 1 ist ein Junge ->
m m
m w
-> P(Kind2=m|Kind1=m)=P(Kind2=m)=1/2Nicht nummeriert:
2 Kinder:
2 m
1 m 1 w
1 m 1 w (nichter Unterscheidbar von Fall 2)
2 w
1 Kind ist Junge->
2 m
1 m 1 w
1 m 1 w
=> P(Kind2=m|Kind1=m)=1/3
-
Gregor schrieb:
Mathematische Modellierung ist schwierig, in der Stochastik ist sie auch schon bei einfachen Problemstellungen stark verwirrend.
Das erinnert mich an die allseits beliebten Textaufgaben in der Grundschule.
Manche rätseln stundenlang darüber, was sie rechnen müssen und fragen dann den Nachbarn, andere rechnen einfach das, was da steht und wundern sich warum die anderen das nicht auch machen.
-
otze schrieb:
Wenn wir nummerieren, dann kommt raus, dass die beiden Wahrscheinlichkeiten statistisch unabhängig sind und damit 1/2 raus kommt. nummerierst du nicht, dann kommt 1/3 raus. Das Problem ist nun, dass in der Aufgabenstellung kein Hinweis daauf ist, ob nummeriert werden soll oder nicht. Und beide Modellierungen sind richtig.
Nein, es sind nicht beide richtig. Man kann das Experiment im Prinzip durchführen, die Situation ist schließlich eindeutig beschrieben. Simulativ kannst Du es allerdings nicht durchführen, da Du in der Simulation schon die Modellierung betreibst und möglicherweise falsche Annahmen einbaust.
Du müsstest also jemanden finden, der 1000 mal seine Nachbarn wegekelt, damit entsprechend oft neue einziehen.
...und wenn Du das machst, wirst Du feststellen, dass 1/2 richtig ist.
-
ich hatte dazu noch was geedited. Es gibt leider nicht "die" Modellierung. Zitat meines DiMa Profs dazu, der exakt das selbe Problem bei Kombinatorik gebracht hat: "Das Problem ist irgendwie nicht so wirklich definiert.".
Und das ist eben der Unterschied. Ob man sagt: "Ich sehe jetzt das EINE Kind. Welches Geschlecht hat das ANDERE?" (nummeriert) oder ob man Global draufschaut: "Ich sehe jetzt EIN Kind. Welche Geschlechter haben BEIDE zusammen?"
-
otze schrieb:
ich hatte dazu noch was geedited. Es gibt leider nicht "die" Modellierung. Zitat meines DiMa Profs dazu, der exakt das selbe Problem bei Kombinatorik gebracht hat: "Das Problem ist irgendwie nicht so wirklich definiert.".
Und das ist eben der Unterschied. Ob man sagt: "Ich sehe jetzt das EINE Kind. Welches Geschlecht hat das ANDERE?" (nummeriert) oder ob man Global draufschaut: "Ich sehe jetzt EIN Kind. Welche Geschlechter haben BEIDE zusammen?"
Du meinst, die Interpretation der Beobachtung verändert das Ergebnis? Wenn ich das Experiment 1000 mal durchführe und mir dabei denke "Das war jetzt Kind Nummer 1" oder "Das war jetzt irgendeins der beiden Kinder", dann soll unterschiedliches rauskommen? Deine Gedanken sollen Auswirkungen auf das Geschlecht Deiner Mitmenschen haben? Ne, daran glaube ich nicht.
-
otze schrieb:
"Das Problem ist irgendwie nicht so wirklich definiert.".
Und das ist eben der Unterschied. Ob man sagt: "Ich sehe jetzt das EINE Kind. Welches Geschlecht hat das ANDERE?" (nummeriert) oder ob man Global draufschaut: "Ich sehe jetzt EIN Kind. Welche Geschlechter haben BEIDE zusammen?"
Die Aufgabe definiert es doch eindeutig. Man sieht das EINE, das am Fenster steht, wenn man gerade hinsieht. Und die Frage ist auf das ANDERE bezogen.
-
So eine lange Diskussion um so ein einfaches Thema? Alles zu lesen war mir zu aufwendig!
Folgendes habe ich im Querlesen mitgenommen: 'Die Ergebnisse der Pisa-Studie waren kein Zufall gewesen und Schmalspurausbildung scheint sehr beliebt zu sein - jedenfalls bei den lernenden'.
Ich verstehe jetzt besser, warum ich und viele Kunden mit ausgebildeten Informatikern in der Praxis oft nichts anfangen konnten!
Ich rate jedem Chef einer IT-Firma, auch das mathematische Grundwissen bei der Einstellung eines Kanditaten zu testen. Die Beherrschung der vier Grundrechenarten (plus-minus-mal-geteilt) reicht nicht. Etwa so: 'Zeigen sie bitte den Weg zur Lösung folgender Aufgabe ....'. Die Aufgabe kann sehr einfach sein, sie sollte nur einen Algorithmus erfordern. :p
-
empgodot schrieb:
otze schrieb:
"Das Problem ist irgendwie nicht so wirklich definiert.".
Und das ist eben der Unterschied. Ob man sagt: "Ich sehe jetzt das EINE Kind. Welches Geschlecht hat das ANDERE?" (nummeriert) oder ob man Global draufschaut: "Ich sehe jetzt EIN Kind. Welche Geschlechter haben BEIDE zusammen?"
Die Aufgabe definiert es doch eindeutig. Man sieht das EINE, das am Fenster steht, wenn man gerade hinsieht. Und die Frage ist auf das ANDERE bezogen.
Aber "am Fenster stehen" ist keine Ordnung für die Kinder. Du hast nur die Information, dass eines der Kinder am Fenster steht, aber nicht welches. Und dies beeinflusst das Ergebnis.
Um deiner Intuition etwas auf die Sprünge zu helfen, hilft vielleicht ein leichter nachvollziehbares Problem:
Formulierung 1: Ich werfe zweimal eine Münze. Ich sage dir, dass von den zwei Würfen mindestens einer Kopf war. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich zweimal Kopf habe? Antwort 1/3.
Formulierung 2: Ich werfe zweimal eine Münze. Ich sage dir, dass von den zwei Würfen der erste Kopf war. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich zweimal Kopf habe? Antwort 1/2.
Jetzt setzt du dich ein paar Stunden hin und wirfst Münzen. Und dann staunst du über das Ergebnis.Aber das ist mir jetzt zu blöd, über Mathematik zu diskutieren, weil ich nicht sehe wie man über etwas beweisbares noch diskutieren kann.
-
Gregor schrieb:
Ein recht einfaches Beispiel bezüglich Modellierung ist das Kind am Fenster Problem.
Das muss man schon Trollerei nennen
-
Bashar schrieb:
Gregor schrieb:
Ein recht einfaches Beispiel bezüglich Modellierung ist das Kind am Fenster Problem.
Das muss man schon Trollerei nennen
SCNR!
-
SeppJ schrieb:
Formulierung 1: Ich werfe zweimal eine Münze. Ich sage dir, dass von den zwei Würfen mindestens einer Kopf war. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich zweimal Kopf habe? Antwort 1/3.
Formulierung 2: Ich werfe zweimal eine Münze. Ich sage dir, dass von den zwei Würfen der erste Kopf war. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich zweimal Kopf habe? Antwort 1/2.Die Aufgabe ist Formulierung 2 zuzuordnen. In der Aufgabe steht ja "Nun sieht man am Fenster einen Jungen stehen". Zu Formulierung 1 würde passen "Man ruft zum Nachbarhaus rüber: 'Ich brauch mal einen starken Jungen, der mir beim Tragen helfen kann!' und dann kommt ein Junge zum Fenster.".
-
Und wo bitte steht "Zeigt mal euer älteres/schwereres/dümmeres/betrunkeneres Kind!", sodass Formulierung 2 zutrifft?
-
Michael E. schrieb:
Und wo bitte steht "Zeigt mal euer älteres/schwereres/dümmeres/betrunkeneres Kind!", sodass Formulierung 2 zutrifft?
"Zeigt mal euer am Fenster stehenderes Kind!"
-
empgodot schrieb:
SeppJ schrieb:
Formulierung 1: Ich werfe zweimal eine Münze. Ich sage dir, dass von den zwei Würfen mindestens einer Kopf war. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich zweimal Kopf habe? Antwort 1/3.
Formulierung 2: Ich werfe zweimal eine Münze. Ich sage dir, dass von den zwei Würfen der erste Kopf war. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich zweimal Kopf habe? Antwort 1/2.Die Aufgabe ist Formulierung 2 zuzuordnen. In der Aufgabe steht ja "Nun sieht man am Fenster einen Jungen stehen". Zu Formulierung 1 würde passen "Man ruft zum Nachbarhaus rüber: 'Ich brauch mal einen starken Jungen, der mir beim Tragen helfen kann!' und dann kommt ein Junge zum Fenster.".
Stimmt, du hast recht. Doch eine doof formulierte Aufgabenstellung, die den Punkt, den sie machen will, verfehlt.
-
SeppJ schrieb:
Doch eine doof formulierte Aufgabenstellung, die den Punkt, den sie machen will, verfehlt.
Den Punkt, den ich damit machen wollte ist, dass Modellierung echt schwer ist. Wenn man sich in Anwendungsgebieten jenseits der Mathematik bewegt, dann hat man eben nicht gleich alles mathematisch formuliert. Das ist einer der Gründe, warum die Abbildung eines Problems auf die Mathematik enorm herausfordernd sein kann. Auch schon bei ganz einfachen Fragestellungen und Problemen ohne jede Komplexität.
-
Wow, das nenne ich doch mal einen Fortschritt!
@Gregor:
Beeindruckende Ausführungen! - Du solltest nur immer einige Sachen im Hinterkopf halten:-
Du hast noch zusätzlich eine naturwissenschaftliche Ausbildung. Damit bist Du besser in der Lage Konzepte zu abstrahieren als reine Informatiker. Klinkt komisch, ist aber so. Ich sehe das hier an meiner eigenen Herde. Jeder hat hier einen Lehrstuhl in der Informatik inne, aber erst nachdem ich Konzepte wie M-Theory, Reaktionsgleichgewichte, Feldtensoren etc vorgestellt habe, bekommen Sie auf einmal Probleme gelöst, die Sie auf einer reinen mathematischen logischen Ebene nicht mehr gebacken bekommen. - Reine Erkenntnismodelle. Deshalb gehst Du von Deiner Einstellung von Selbstverständlichkeiten aus, die normale Leute eben trotz schönen Ausführungen nicht mehr realisieren.
-
Ich bin sicher in 10-15 Jahren gibt es ein neues Unterichtsfach in der Schule - 'Systems & Requirements Engineering'. Dann wir unter anderem auch diskutiert, welche Domainmodelle man aus einer Anwendungsdomain entwickeln muss, damit aus deren Konfiguration ein Ausbildungskonzept entsteht, das die Anforderungen eines zukünftigen Jobs erführen soll. Und dann realisiert man sofort, dass diese Domainmodelle nicht stabil sind. Also, ob mehr Mathe ins Infostudium rein sollte, hängt von der Anwendungsdomain (Job) ab.
-
Ein weiters Problem von besonders "mathematischen" Informatikern ist, dass sich in Details verlieren. Ich z.B. muss ständig an den Zügeln reißen, damit die Leute sich zunächst die ersten Abfahrten mal ankucken, bevor sie sich entscheiden, ob sie in der 30. Abfahrt links oder rechts fahren, weil die ersten 29 ihrer Meinung nach sowieso Schema F sind - Fürchterlich! - Zwei Zeilen an der Tafel und schon Schrittfehler. Dann werden zwar 2 Monate lang Ergebnisse produziert, die aber für das Erreichen des Topziels marginal sind. Und dann wird dann politischer Druck gemacht, dass die ersten 29 Ausfahren auch ja so umgesetzt werden, damit man seine Existenzbereichtingung hat.
-
-
Prof84 schrieb:
Und dann realisiert man sofort, dass diese Domainmodelle nicht stabil sind. Also, ob mehr Mathe ins Infostudium rein sollte, hängt von der Anwendungsdomain (Job) ab.
Gerade die Informatik hat enorm viele Anwändungsdomänen. Da kann man nicht für jede Domäne ein angepasstes Studium entwickeln. Naja, vielleicht doch. Ich hatte ja mal in dem Thread "Was ist Informatik?" gesagt, für was ich die Informatik halte und wie sich die Informatik aus meiner Sicht entwickeln wird. Vor allem denke ich, dass viele Bereiche von der Informatik abgesplittert werden. Was an Universitäten zurückbleibt, wird eine wissenschaftliche Orientierung haben und entsprechend eine ganze Menge Mathematik benötigen.
Allerdings denke ich, dass diese Entwicklung relativ unabhängig von einer Diskussion der Ziele des Informatikstudiums stattfinden wird. Es ist einfach so, dass sich bestimmte Bereiche im Kern der Informatik etablieren und ausweiten. Bereiche, die keinen großen Zusammenhang zu diesem Kern haben, fallen auf Dauer somit automatisch raus. Und gerade die sehr praktisch orientierten Bereiche haben wenig Bezug zu anderen Teilen der Informatik.
Letztendlich musst Du ja sehen, dass das Informatikstudium ein Studium ist und keine Berufsausbildung. Die Ausrichtung auf einen bestimmten Beruf ist da eine absolute Nebensache. Während der Boomphase der New Economy gab es natürlich jede Menge Rufe danach, dass man sehr praktisch orientierte Informatik-Absolventen brauche, die man möglichst schnell daran setzen kann, eine Internetpräsenz für ein Unternehmen zu entwickeln. Diese Rufe höre ich heute aber kaum mehr. Und dann kannst Du die Informatik mal mit anderen Studien vergleichen. Hat es ein Physikstudium nötig, mit Blick auf bestimmte Berufe entworfen zu sein? Oder hat ein Mathestudium das nötig? Ne, beide haben das nicht nötig und ein wissenschaftliches Informatikstudium hat das auch nicht nötig. Allerdings könnten sich bestimmte Ingenieurs-Studien im Umfeld der Informatik etablieren, die eine _etwas_ stärkere Ausrichtung auf eine Klasse von Berufen haben.
Aber wie schon gesagt. Ich gehe davon aus, dass der Mathematik-Anteil im Informatikstudium zunehmen wird. ...und empfehle in diesem Zusammenhang den oben verlinkten "Was ist Informatik?"-Thread zu lesen.