Warum enthält ein Informatikstudium soviel Mathe?



  • Wow, das nenne ich doch mal einen Fortschritt!

    @Gregor:
    Beeindruckende Ausführungen! - Du solltest nur immer einige Sachen im Hinterkopf halten:

    1. Du hast noch zusätzlich eine naturwissenschaftliche Ausbildung. Damit bist Du besser in der Lage Konzepte zu abstrahieren als reine Informatiker. Klinkt komisch, ist aber so. Ich sehe das hier an meiner eigenen Herde. Jeder hat hier einen Lehrstuhl in der Informatik inne, aber erst nachdem ich Konzepte wie M-Theory, Reaktionsgleichgewichte, Feldtensoren etc vorgestellt habe, bekommen Sie auf einmal Probleme gelöst, die Sie auf einer reinen mathematischen logischen Ebene nicht mehr gebacken bekommen. - Reine Erkenntnismodelle. Deshalb gehst Du von Deiner Einstellung von Selbstverständlichkeiten aus, die normale Leute eben trotz schönen Ausführungen nicht mehr realisieren.

    2. Ich bin sicher in 10-15 Jahren gibt es ein neues Unterichtsfach in der Schule - 'Systems & Requirements Engineering'. Dann wir unter anderem auch diskutiert, welche Domainmodelle man aus einer Anwendungsdomain entwickeln muss, damit aus deren Konfiguration ein Ausbildungskonzept entsteht, das die Anforderungen eines zukünftigen Jobs erführen soll. Und dann realisiert man sofort, dass diese Domainmodelle nicht stabil sind. Also, ob mehr Mathe ins Infostudium rein sollte, hängt von der Anwendungsdomain (Job) ab.

    3. Ein weiters Problem von besonders "mathematischen" Informatikern ist, dass sich in Details verlieren. Ich z.B. muss ständig an den Zügeln reißen, damit die Leute sich zunächst die ersten Abfahrten mal ankucken, bevor sie sich entscheiden, ob sie in der 30. Abfahrt links oder rechts fahren, weil die ersten 29 ihrer Meinung nach sowieso Schema F sind - Fürchterlich! - Zwei Zeilen an der Tafel und schon Schrittfehler. Dann werden zwar 2 Monate lang Ergebnisse produziert, die aber für das Erreichen des Topziels marginal sind. Und dann wird dann politischer Druck gemacht, dass die ersten 29 Ausfahren auch ja so umgesetzt werden, damit man seine Existenzbereichtingung hat. 😞



  • Prof84 schrieb:

    Und dann realisiert man sofort, dass diese Domainmodelle nicht stabil sind. Also, ob mehr Mathe ins Infostudium rein sollte, hängt von der Anwendungsdomain (Job) ab.

    Gerade die Informatik hat enorm viele Anwändungsdomänen. Da kann man nicht für jede Domäne ein angepasstes Studium entwickeln. Naja, vielleicht doch. Ich hatte ja mal in dem Thread "Was ist Informatik?" gesagt, für was ich die Informatik halte und wie sich die Informatik aus meiner Sicht entwickeln wird. Vor allem denke ich, dass viele Bereiche von der Informatik abgesplittert werden. Was an Universitäten zurückbleibt, wird eine wissenschaftliche Orientierung haben und entsprechend eine ganze Menge Mathematik benötigen.

    Allerdings denke ich, dass diese Entwicklung relativ unabhängig von einer Diskussion der Ziele des Informatikstudiums stattfinden wird. Es ist einfach so, dass sich bestimmte Bereiche im Kern der Informatik etablieren und ausweiten. Bereiche, die keinen großen Zusammenhang zu diesem Kern haben, fallen auf Dauer somit automatisch raus. Und gerade die sehr praktisch orientierten Bereiche haben wenig Bezug zu anderen Teilen der Informatik.

    Letztendlich musst Du ja sehen, dass das Informatikstudium ein Studium ist und keine Berufsausbildung. Die Ausrichtung auf einen bestimmten Beruf ist da eine absolute Nebensache. Während der Boomphase der New Economy gab es natürlich jede Menge Rufe danach, dass man sehr praktisch orientierte Informatik-Absolventen brauche, die man möglichst schnell daran setzen kann, eine Internetpräsenz für ein Unternehmen zu entwickeln. Diese Rufe höre ich heute aber kaum mehr. Und dann kannst Du die Informatik mal mit anderen Studien vergleichen. Hat es ein Physikstudium nötig, mit Blick auf bestimmte Berufe entworfen zu sein? Oder hat ein Mathestudium das nötig? Ne, beide haben das nicht nötig und ein wissenschaftliches Informatikstudium hat das auch nicht nötig. Allerdings könnten sich bestimmte Ingenieurs-Studien im Umfeld der Informatik etablieren, die eine _etwas_ stärkere Ausrichtung auf eine Klasse von Berufen haben.

    Aber wie schon gesagt. Ich gehe davon aus, dass der Mathematik-Anteil im Informatikstudium zunehmen wird. ...und empfehle in diesem Zusammenhang den oben verlinkten "Was ist Informatik?"-Thread zu lesen. 😋



  • Gregor schrieb:

    ... Ich gehe davon aus, dass der Mathematik-Anteil im Informatikstudium zunehmen wird. ...

    Dann lasst uns das mal hoffen - schaden kann es nicht! Was ist der Abschluss eines Informatik-Studium - ein Dipl.-Ing. oder ein Dipl.-Inf.? Wenn Dipl.-Ing., gehört Mathematik notwendig dazu oder diese Fachrichtung schmückt sich mit falschen Emblemen!



  • Gregor schrieb:

    Du meinst, die Interpretation der Beobachtung verändert das Ergebnis? Wenn ich das Experiment 1000 mal durchführe und mir dabei denke "Das war jetzt Kind Nummer 1" oder "Das war jetzt irgendeins der beiden Kinder", dann soll unterschiedliches rauskommen? Deine Gedanken sollen Auswirkungen auf das Geschlecht Deiner Mitmenschen haben? Ne, daran glaube ich nicht. 😋

    Aber genau das ist doch das Interessante!
    Es geht nicht darum, wie die Verteilung der Geschlechter ist. Es geht darum, wie man die Zusatzinformationen interpretiert. Die ist in dem Fall "Ein Junge steht am Fenster".

    Nun kann man das für eine Simulation auf unterschiedliche Arten interpretieren.

    Zum Beispiel:
    1. erzeuge zufällig 2 Geschwister
    2. schicke nun zufällig eines der beiden ans Fenster
    3. Wenn es männlich ist, dann pack das Geschlecht des anderen Kindes in die Statistik
    sonst: Verwerfe, da Bedingung nicht erfüllt.

    Ergebnis: 1/3

    Andere Modellierung:
    1. erzeuge zufällig 2 Geschwister
    2. schicke das erste der beiden Kinder ans Fenster
    3. Wenn es männlich ist, dann pack das Geschlecht des 2. Kindes in die Statistik
    sonst: Verwerfe, da Bedingung nicht erfüllt.

    Ergebnis: 1/2

    Der Unterschied ist nur die Auswahl der Fälle und wann man einen Fall verwirft. Im ersten Fall fällt raus, dass bei den Kombinationen m/w w/m nur zu einer 50% Wahrscheinlichkeit der Junge wirklich am Fenster steht. Das kann aber laut Aufgabenstellung nicht beachtet werden, weil "Du siehst einen Jungen am Fenster". Aber der zweite Fall führt eine unnatürliche Enumeration der Kinder ein.



  • otze schrieb:

    Zum Beispiel:
    1. erzeuge zufällig 2 Geschwister
    2. schicke nun zufällig eines der beiden ans Fenster
    3. Wenn es männlich ist, dann pack das Geschlecht des anderen Kindes in die Statistik
    sonst: Verwerfe, da Bedingung nicht erfüllt.

    Ergebnis: 1/3

    Nein, auch da kommt 1/2 raus. Wenn du zweifelst, programmier' es doch mal. 🙂



  • Warum enthält ein Informatikstudium soviel Mathe?

    Tut es gar nicht. Im Gegenteil: Es enthaelt zu wenig Mathematik.



  • empgodot schrieb:

    otze schrieb:

    Zum Beispiel:
    1. erzeuge zufällig 2 Geschwister
    2. schicke nun zufällig eines der beiden ans Fenster
    3. Wenn es männlich ist, dann pack das Geschlecht des anderen Kindes in die Statistik
    sonst: Verwerfe, da Bedingung nicht erfüllt.

    Ergebnis: 1/3

    Nein, auch da kommt 1/2 raus. Wenn du zweifelst, programmier' es doch mal. 🙂

    Ich habe das mal gebaut:

    import java.util.*;
    
    public class KindAmFenster
    {
       public static void main(String[] args)
       {
          Random rand = new Random();
          int[] kids = new int[2];
          long[] statistics = new long[2];
          for(int i = 0 ; i < 1000000000 ; ++i)
          {
             // zufällige Kinder erzeugen. 0=Junge, 1=Mädel
             for (int j = 0 ; j < kids.length ; ++j)
             {
                kids[j] = Math.abs(rand.nextInt()) % 2;
             }
             // zufällige Wahl des Kindes:
             int chosenKid = Math.abs(rand.nextInt()) % 2;
             // wenn Kind Junge, dann anderes Kind in die Statistik
             if(kids[chosenKid] == 0)
             {
                ++statistics[kids[(chosenKid+1)%2]];
             }
          }
          System.out.println("Anzahl Jungen:  " +  statistics[0]);
          System.out.println("Anzahl Mädchen: " +  statistics[1]);
       }
    }
    

    Resultat:

    Anzahl Jungen:  249992316
    Anzahl Mädchen: 250106787
    

    Sieht nach 50/50 aus.

    @Otze: So kommst Du nicht auf Dein 1/3-Ergebnis. Du müsstest das so machen:

    1. Erzeuge zufällig 2 Geschwister.
    2. Guck, ob bei den beiden Geschwistern mindestens ein Junge dabei ist. Ist das nicht der Fall, verwerfe diesen Durchgang. Ansonsten schicke den Jungen ans Fenster und das andere Kind in die Statistik.

    Du siehst, dass man bei dieser Modellierungsvariante enorme Annahmen über die Vorgeschichte der beiden Kinder getroffen hat. Die stecken in der Problembeschreibung aber nicht drin.



  • Gregor schrieb:

    Du siehst, dass man bei dieser Modellierungsvariante enorme Annahmen über die Vorgeschichte der beiden Kinder getroffen hat. Die stecken in der Problembeschreibung aber nicht drin.

    Ich sehs genau andersrum, nämlich dass du Annahmen über die Vorgeschichte der Kinder machst, wenn du sagst, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ans Fenster gehen, anstatt einfach hinzunehmen, dass ein Junge am Fenster steht und daraus zu schließen, dass mindestens ein Kind ein Junge ist. Da können wir uns lange drüber streiten, was natürlicher ist.



  • Da steht ein Kind am Fenster? Es fragt sich zunächst, was sehe ich da draussen. Später fragt es sich, ob es Mathematik lernen soll. Brauche ich nicht für mein angestrebtes Informatik-Studium sagt es und will davon nichts wissen! Wofür denn - ich werde in der Praxis die Vorgaben machen, den Rest machen die anderen! 😕



  • Ich glaube, das hat auch geschichtliche Gründe, das es soviel Mathematikfetischismus im Informatikunterricht gibt. Es gibt das Fach noch nicht sehr lange.

    Denkbar wäre z.B. eine viel stärkere rethorische Ausbildung, um nicht von den Projektleitern und -assistenten in den Wahnsinn getrieben zu werden.

    Sehr vernachlässigt wird nach meinem Einduck in der wissenschaflichen Ausbildung auch gerne die Qualität der Hypothesenbildung oder das Ermöglichen von Extremspezialisierungen.
    Die kreative wissenschaftliche Leistung erschöpft sich oft in überflüssigen Definitionen oder irreführendem Wortgebrauch - obwohl es aufgrund der Überfrachtung mit generell als nützlich erachteten Inhalten (Overload) kaum noch möglich scheint, Eigeninitiative zu entwickeln: es kommt zu geistlosen Downloads und sinnentleertem Nachgeplapper. Das kann man bei vielen Professoren beobachten, die auf eine einfache Frage wie "wie alt ist das Grundgesetz?" kaum noch eine einfache Antwort formulieren können ohne allerlei assoziierte Wissenshalden zusätzlich abzuladen.



  • @nachtfeuer: Kann deine Argumentation nicht nachvollziehen. Mein Studium hat sich anders gestaltet.



  • nachtfeuer schrieb:

    Ich glaube, das hat auch geschichtliche Gründe, das es soviel Mathematikfetischismus im Informatikunterricht gibt. Es gibt das Fach noch nicht sehr lange.

    Naja, geschichtliche Gründe sicher, denn Informatik ist im weitesten Sinne Mathematik. Jetzt das Studium dieses Fachgebietes auf einen Java und UML-Kurs zu verkrüppeln, weil die meisten 'typischen' Informatiker-Stellen kaum auf Studieninhalte angewiesen sind, kann ja nicht Sinn der Sache sein. Es ist einfach das Problem, dass es aus einer Mode heraus zu viele Informatiker gibt und zu wenig 'echte' Stellen.



  • knivil schrieb:

    @nachtfeuer: Kann deine Argumentation nicht nachvollziehen. Mein Studium hat sich anders gestaltet.

    Ich kann seine Aussage auch nicht nachvollziehen und gehe davon aus, dass er keinerlei Studienerfahrung in einer Ingenieursdisziplin, Naturwissenschaft, Mathematik oder Informatik hat.



  • Walli schrieb:

    Naja, geschichtliche Gründe sicher, denn Informatik ist im weitesten Sinne Mathematik.

    also das kann ja nicht ganz stimmen, sonst würd ich ja als 08/15 coder keine 5en und 6en in mathe bekommen (ups. diese noten gabs ja nur vor der 11. klasse) 😉



  • no_code schrieb:

    Walli schrieb:

    Naja, geschichtliche Gründe sicher, denn Informatik ist im weitesten Sinne Mathematik.

    also das kann ja nicht ganz stimmen, sonst würd ich ja als 08/15 coder keine 5en und 6en in mathe bekommen (ups. diese noten gabs ja nur vor der 11. klasse) 😉

    Du hast Informatik studiert und hattest vorher 5 und 6en? Glaube ich dir eigentlich nicht.



  • Storm.Xapek.de schrieb:

    Du hast Informatik studiert

    ich habe mich nur als 0815 coder bezeichnet und nicht als informatik student oder sind alle studenten 0815 coder 😮



  • no_code schrieb:

    ich habe mich nur als 0815 coder bezeichnet und nicht als informatik student oder sind alle studenten 0815 coder 😮

    Dann fehlt aber noch der Beweis dafür, dass das was du tust Informatik ist. Ich könnte ja sonst auch sagen, dass Fußball kein Sport ist. Immerhin kann ich gegen einen Ball treten, obwohl ich schlechte Noten in Sport hatte.



  • Tobiking2 schrieb:

    Dann fehlt aber noch der Beweis dafür, dass das was du tust Informatik ist.

    ups. wie blöd von mir... hab ganz vergessen dass meine finger auf nem klavier spielen, und ich ja eigentlich musik mach :p



  • no_code schrieb:

    Tobiking2 schrieb:

    Dann fehlt aber noch der Beweis dafür, dass das was du tust Informatik ist.

    ups. wie blöd von mir... hab ganz vergessen dass meine finger auf nem klavier spielen, und ich ja eigentlich musik mach :p

    Ja, und jeder, der mal Fliesenkleber angerührt hat, ist gleich Architekt...



  • Die Diskussion "Was ist Informatik und was soll Informatik machen?" hatten wir hier schon zur Genüge. Klare Anworten gab es selten. Ich finde es erstaunlich, dass diese Fachrichtung nach mehreren Jahrzehnten Existenz, ihre Grundlagen offensichtlich noch nicht selbst vollkommen bestimmt hat. Wenn jemand die Ansprüche der Mathematik im Studium als zu schwer oder unnütz empfindet, dann soll er es lassen und sehen, wie er seinen Abschluss bekommt. In der späteren Praxis fehlt ihm dann möglicherweise etwas zum Job! :p


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